Zurück im Leben

Katharina und Florian trafen einander das erste Mal in der Volksschule - ein Flegel aus einer der höheren Klassen hatte das Mädchen derart angerempelt, daß ihre Schulbücher und Hefte, welche sie an sich gedrückt hielt, in die Luft wirbelten und sich über den Gang verstreuten.

Florian, der das Geschehen aus der Nähe mitgekriegt hatte, tat die Kleine mit den üppigen Goldlocken leid, die da am Boden herumkroch und ihre Habseligkeiten einsammelte. Obwohl er sich kaum das Lachen verbeissen konnte beschloß er, ihr beim Einsammeln zu helfen und bückte sich nach den Büchern.

Als sie ihn dankbar lächelnd ansah, blickte er in die blauesten Augen die er je gesehen hatte - wie zwei kleine Bergseen strahlten sie in ihrem hübschen Gesichtchen. Er stellte sich vor und begleitete sie zu ihrem Klassenzimmer, damit ihr das Mißgeschick nicht nochmals geschah. Daß er dafür selbst zu spät zum Unterricht kam nahm er in Kauf. Auch die Strafe dafür - eine halbe Stunde nachsitzen. Zu seiner Überraschung wartete das Mädchen vor dem Klassenzimmer auf ihn. Sie hatte es irgendwie herausgefunden und in der Zwischenzeit eine schöne Zeichnung für ihn gemacht mit der sie sich für seine Hilfe bedanken wollte, was ihn aber ganz verlegen machte.

Von diesem Tag an waren die beiden jedenfalls unzertrennlich. Sie halfen einander bei den Schulaufgaben, erzählten sich lustige selbst erfundene Geschichten und wenn es draußen schön war, spielten sie auf der Blumenwiese Fangen. Florian liebte es dabei, wenn Katharinas Locken in der Sonne glänzten und wenn sie diese mit einem glockenhellen Lachen zurückwarf.

So erlebten die beiden eine glückliche Kindheit und Jugend in bester Freundschaft - keiner tat irgendetwas ohne den anderen - da war es nur naheliegend daß sie, als es das Alter erlaubte heirateten und in ein kleines gemütliches Häuschen zogen, wo sie die nächsten Jahre in Harmonie verbrachten.

Und dann kam der Tag, der alles veränderte. Katharina hatte in der Küche einen Schwächeanfall bekommen und Florian mußte mit ihr zum Arzt. Nach einer eingehenden Untersuchung riet dieser, der die beiden von klein auf kannte, das Krankenhaus für weitere Untersuchungen aufzusuchen - in der Hoffnung, daß sich sein böser Verdacht nicht bewahrheiten würde.

Es stellte sich jedoch leider heraus, daß Katharina sehr krank war. Erschöpfungszustände würden nun häufiger auftreten und eines Tages würde sie einfach zu schwach sein. Die heimtückische Krankheit war bereits zu weit fortgeschritten - es gab keine Aussicht auf Heilung.

Die nächsten Wochen verbrachten sie in niedergedrückter Stimmung obwohl sich beide bemühten, den anderen davon nichts merken zu lassen. Katharina war sehr oft müde und mußte sich hinlegen. Florian leistete ihr dann Gesellschaft und sie sprachen über die verschiedensten Dinge - auch über den Tod.

"Ich weiß, daß es nicht einfach aus ist, wenn man stirbt" sagte sie "ich bin sicher, daß wir uns wiedersehen" und wo sie es so fest - fast beschwörend sagte, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Obwohl er doch stark sein wollte lief eine Träne über seine Wange hinunter. Da hob sie lächelnd die Hand und zeichnete mit ihrem Zeigefinger die Bahn der Träne auf seiner Wange nach - dies sollte nun noch öfter passieren. "Du sollst doch nicht weinen, sei nicht traurig, mein Lieber. Ich habe keine Angst" sagte sie "wir hatten so eine schöne Zeit miteinander - die meisten Menschen haben so etwas nicht".

An diesem Tag mußte Florian seine Katharina ins Krankenhaus bringen und dann ging es ihr von Tag zu Tag schlechter. Als er bei ihr am Bett saß und wieder einmal weinte, hob sie matt die Hand um wie gewohnt die Bahn seiner Träne nachzuzeichnen - diesmal war sie jedoch zu schwach. Er fing die herabfallende Hand auf und presste die Fingerspitzen an seine Lippen als sie flüsterte "Florian, Lieber - ich glaube ich kann nicht mehr lange bei dir bleiben". Die nächsten Stunden blickten sie einander in die Augen und er sah, wie das Leben immer mehr aus ihr wich.

Und dann war sie da, die Leere - in ihren Augen und in seinem Herzen.

Die nächsten Wochen waren die Hölle für Florian. Er zog sich in sein Häuschen zurück und ging nur selten unter die Leute. Er aß kaum das Nötigste, magerte ab und in seinem Gesicht wucherte ein struppiger Bart. Wenn er seiner Katharina hätte folgen können wäre es ihm nur recht gewesen, aber das war ihm nicht vergönnt.

Nach einigen Monaten, als der ärgste Schmerz abgeklungen war und er sich damit abfand, daß er weiterleben mußte, verkaufte er das Häuschen und zog in eine anonyme Stadtwohnung, wo ihn keiner kannte. Nur langsam konnte er sich wieder ein Leben aufbauen und es dauerte einige Jahre bis es für ihn damit wieder etwas bergauf ging. Er war alleine geblieben und lebte sehr zurückgezogen. Von seinem Fenster aus konnte er jedoch hinüber zum Park sehen, in dem immer Kinder spielten und manchmal sah er ihnen dabei zu. Aber selbst das erinnerte ihn an etwas Verlorenes.

Eines Tages hielt unten ein Möbelwagen - ein neuer Mieter zog in die freie Wohnung nebenan. Wie sich kurz darauf zeigte, war es jedoch kein Mieter, sondern eine alleinstehende junge Frau mit einem Kind. Florian traf die Frau allein im Treppenhaus als sie vom Einkauf kam und sie stellte sich als neue Nachbarin vor. Sie hatte ein natürliches Wesen und erzählte, daß sie erst gar nicht vorgehabt hätte in diese Gegend zu ziehen, aber ihre kleine Tochter hätte zufällig die Zeitungsseite mit dem Inserat aufgeschlagen und so ergab es sich. Florian war nicht sonderlich interessiert und verabschiedete sich höflich.

Er hoffte, daß das Kind nicht seine Ruhe stören würde. Aber die Wände waren dick - die Sorge unberechtigt. Nur ab und zu war es ihm, als würde er ein helles Lachen von nebenan hören.

Ein paar Tage später ging Florian nach langer Zeit einmal in den Park hinüber - die Sonne schien, es war angenehm warm und er fühlte sich etwas besser. So spazierte er über die Straße und dachte fast warum er das nicht schon früher gemacht hatte. Er setzte sich auf eine Bank von der aus er den Kindern beim Spielen zusehen konnte. Unter ihnen war ein Mädchen mit blonden Locken, die in der Sonne golden glänzten und während es immer wieder hell auflachte blickte es auch zu ihm herüber. Das Kind erinnerte ihn sehr stark und schon war da wieder dieses Gefühl von Verlust.

Der Schmerz übermannte Florian - es war wohl doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu kommen. Als eine Träne seine Wange hinunterlief, sah er um seine Trauer zu verbergen auf den Boden. Da fiel ein Schatten auf ihn - er schaute auf und da stand die Kleine vor ihm. Als sie ihn mit großen fragenden Augen anblickte, die hübsche lockenumrahmte Stirn zu Falten gerunzelt, schaute er in die blauesten Augen, die er je gesehen hatte. Einen Moment lang hoffte er, darin ein vertrautes Wesen zu erkennen - aber das war ja unmöglich.

Da hob das Kind die Hand und fuhr wie selbstverständlich mit dem Zeigefinger die Bahn seiner Träne auf der Wange nach. Als sie am Ende innehielt schien die Zeit für die beiden still zu stehen - für einen Augenblick lang meinte Florian in den Augen der Kleinen etwas wie eine Erinnerung zu sehen - eine Erinnerung, die an die Oberfläche kommt, aber doch nicht so ganz.

Da war der Zauber des Moments auch schon vorbei - mit einem glockenhellen Lachen warf das Mädchen die blonden Locken zurück und kehrte ihm den Rücken zu. Es hatte ein Rufen gehört auf das Florian nicht geachtet hatte und nun lief es auf eine junge Frau zu, die näher kam. Diese winkte freundlich herüber und Florian erkannte in ihr seine neue Nachbarin.

An diesem Tag fühlte er sich zum ersten Mal wieder wohl. Er war zurück im Leben.

Christine Szécsényi 2007

Keine Kommentare: