Der Engel von St. Martin


Es begab sich zu einer Zeit als in der kleinen Gemeinde das Osterfest vor der Tür stand, daß die alte Orgel der Pfarrkirche verwaist war - der betagte Organist war plötzlich erkrankt und konnte seinen Dienst nicht erfüllen. Der Ersatz war in der fernen Stadt und nicht rechtzeitig zurück.

Da sprach bescheiden ein junger Mann im Pfarrbüro vor - er wäre auf der Durchreise und würde für sein Leben gerne einmal auf dem Instrument spielen, von dem er schon so viel gehört hätte. Er konnte seine Qualifikation vorlegen, die ihn als studierten Kirchenmusiker auswies.


Der Pfarrer meinte, daß ihn der Himmel geschickt hätte und fragte hoffnungsvoll, ob er denn nicht das Hochamt am Ostersonntag spielen könnte - was der Fremde gerne zusagte. Also ging Hochwürden persönlich mit dem jungen Mann hinüber zur Kirche, öffnete die Tür zur Empore und führte den Gast zur Orgel.

Als nach dem Einschalten das Instrument zum Leben erwachte und tief Luft in die alten Lungen holte, legte sich ein feines Lächeln um die Lippen des Fremden, er nahm Platz auf der Orgelbank und betätigte ein paar Register. Dann spielte er eine Weile, wobei dem Pfarrer eines sofort auffiel - die Orgel schien irgendwie anders zu klingen als sonst, auch die üblichen kleinen altersbedingten Pfeif- und Klappergeräusche waren verschwunden. Nachdenklich ging er zurück in sein Pfarrbüro um den Gast in Ruhe üben zu lassen.

Während der Fremde die Tiefen des Instrumentes im Spiel auslotete und der Orgelgesang bis auf den Vorplatz drang, sammelten sich draußen Menschen und lauschten gefesselt der schönen Musik. Dies wiederholte sich die nächsten Tage und da es sich herumgesprochen hatte, daß ein neuer Organist ganz besondere Klänge aus der Orgel holen würde, kamen immer mehr Leute.

Und dann kam der Ostersonntag - die Kirche war so voll wie schon seit langer Zeit nicht mehr - alle wollten sie den jungen Mann das Hochamt spielen hören. Es wurde ein Gottesdienst voller Inspiration und zu einem besonderen Erlebnis für alle Anwesenden. Als zum Schluß der Auszug kam, blieben alle sitzen und folgten der wunderbaren Musik, die die Orgel in nie zuvor gehörter Schönheit erklingen ließ - die Klänge wurden immer intensiver, von berührender Ästhetik als in einem strahlenden Schlußakkord die Musik abbrach, und plötzlich die ganze Empore in ein helles Licht getaucht war, das sich ausbreitete und alle mit tiefem Frieden erfüllte. Der Engel - denn ein solcher war er - konnte seine irdische Form nicht mehr aufrecht halten und nun war es Zeit für ihn, zu gehen.

Die Menschen in der Kirche wußten, daß sie Zeuge von etwas völlig einzigartigem, wunderbaren geworden waren - sie sahen einander an und die meisten hatten Tränen in den Augen. Es war ganz still geworden. Da war ein Gefühl von Gemeinschaft und Geborgenheit in jedem, das sie nie wieder verlassen sollte.

Einige Zeit war nun vergangen und die Orgel
hatte einen neuen Herren gefunden, der das Instrument liebte und seinen Diensten an der Gemeinde mit Freude und hoher Kunst nachkam. Nur eines war seltsam: Er hatte an der Orgel ein überzähliges Register entdeckt, das jedoch nur an den Hochfesten Weihnachten und Ostern erklang und sich sonst nicht spielen ließ. Es war von feiner, heller Silbrigkeit, die selbst den vollsten Klang überstrahlte und trug die Bezeichnung “vox angelis”.

Allerdings - niemand konnte die dazugehörige Pfeifenreihe ausfindig machen, obwohl mehrere namhafte Experten und Orgelbauer danach suchten. Aber dies wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben.

Christine Szécsényi 2007

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ich habe die Kurzgeschichte gelesen
und sie hat mir sehr gefallen.
Ich werde Einiges von Ihren
Gedichten und Geschichten in Ruhe
lesen.