Die Kristall-Kathedrale

Dies ist die Geschichte von Wendelin Rainer, der sein Leben lang suchte und letztendlich fand. In der alten Dorfchronik ist sie aufgezeichnet:

Wendelin war ein junger Mann Anfangs 25, den das Leben bereits schwer geprüft hatte. Durch verschiedene Schicksalsschläge hatte er verloren was ihm lieb war und so war ihm nichts geblieben als Bitterkeit über widerfahrene Ungerechtigkeiten. Eines Tages faßte er einen endgültigen Entschluß, er hatte - wie er meinte - nichts mehr zu verlieren, und war bereit loszulassen.

So kam er in das kleine Dorf nahe dem dunklen Grenzwald. In der Wirtschaft, wo er sich nach dem Weg erkundigte, gab er vage an, auf Wanderung zu sein. Am Morgen war er aufgebrochen, in den Wald und er würde einfach weitergehen bis er es nicht mehr ertragen konnte. Man hatte ihn gewarnt, daß das Gelände unwegsam sei und es weit drinnen eine tiefe Schlucht mit einem tosenden Wasserfall gäbe - indes sie war sein Ziel.

Als er bereits viele Stunden im Wald unterwegs war und sich der Tag dem Ende neigte, da war das Gelände auf einmal gar nicht mehr so unwegsam. Da war ein kleiner schwarzer See zu seiner linken und vorne schien eine Lichtung in der Dämmerung aufzutauchen. Von dort kamen auch die drei silbernen Glockenschläge, die ihn zu rufen schienen.

Wendelin folgte dem Klang und trat auf die Lichtung hinaus - da sah er sie - wie sie sich majestätisch vor ihm in den Himmel erhob - mit zwei Türmen, so groß, daß er den Kopf in den Nacken biegen mußte um die Spitzen zu sehen. Der Anblick der leuchtenden Kristall-Kathedrale, in der sich die Abendfarben spiegelten, war schier überwältigend. So bemerkte er erst nach einer Weile, daß ein offenes Portal eine Einladung aussprach. Wendelin trat ein.

Im Inneren wirkte der Kirchenraum noch monumentaler - alle Formen waren aus dem selben Kristall, der in stiller Reinheit schimmerte. Ein tiefer Friede erfaßte Wendelin, der die Ruhe in sich aufnahm. Außer ihm war keine Person anwesend und doch hatte er nicht das Gefühl allein zu sein. Es war ihm, als würde er feine Töne von nie zuvor wahrgenommener Schönheit hören, die aus einem orgelartigen Gebilde herrührten, das schwalbennestgleich an der Seitenwand hing.

Er lauschte und ein Zittern ging durch seinen Körper als er unter Tränen fühlte, wie er an Leib und Seele zu genesen begann, wie alles Schwere von ihm abfiel - sogar die Last seines Körpers spürte er nicht mehr. Da war nur noch er selbst - eine Seele an einem Ort vollkommener Harmonie.

Nach einer Weile war es ihm, als würde eine Stimme sagen "Deine Zeit ist noch nicht gekommen - geh jetzt". Die Pforte stand offen und er tat was ihm geheißen. Da war die Nacht, doch er hatte keine Angst, denn eine nie gekannte Stärke und Zuversicht erfüllte ihn. Er wollte noch ein wenig darüber nachsinnen was passiert war und machte es sich auf dem weichen moosigen Boden bequem. Über seinen Gedanken schlief er ein.

Als er im Licht des neuen Tages erwachte, bemerkte er, daß er anscheinend nur ein paar Meter von der Schlucht entfernt geruht hatte - der tosende Katarakt war so nahe, daß er dessen feinen Wassernebel auf der Haut spüren konnte. Wendelin war nicht ganz klar, wie er hierher gekommen war. Er erkannte jedoch, wie nahe er am Abgrund seines Lebens gestanden hatte. Er machte sich auf den Rückweg - das Gelände war wirklich sehr unwegsam und ungemein anstrengend. Aber Wendelin würde sich nie wieder über etwas beklagen.

Tapfer kämpfte er sich den Weg zurück durch dichtes Gebüsch - Pfad und Richtung nur erahnend. Nach vielen Stunden kam er körperlich erschöpft, jedoch glücklich im Dorf an - sein erster Weg führte ihn in die kleine Kirche, wo er eine Stunde im Gebet verharrte. Er war zurück im Leben und hatte ein großes Geschenk erhalten - sich selbst.

Als er sich später in der Wirtschaft stärkte, kamen ein paar Männer an seinen Tisch und sagten, daß sie froh seien, ihn gesund und munter wiederzusehen. Man hätte sich große Sorgen um den Fremden gemacht, der letzten Abend nicht von seiner Wanderung zurückgekehrt war. Wendelin fühlte sich sehr wohl mit den netten Menschen, er wagte aber nicht zu erzählen, was geschehen war. Das würde ihm wohl keiner glauben.

Er beschloß, in dem kleinen Dorf zu bleiben und da er alle Zelte hinter seinem früheren Leben abgebrochen hatte, stand dem nichts im Wege. Es stellte sich heraus, daß ein Lehrer für die alte Schule gebraucht wurde und er hatte eine entsprechende Ausbildung - zwar nicht abgeschlossen, aber er traute es sich zu und der Gemeinderat war einverstanden. So blieb er also, machte sich mit allem vertraut und erfüllte seine Aufgabe, die ihm immer mehr Freude bereitete. Er liebte es, die jungen Menschen zu führen und anzuleiten.

Die Jahre vergingen und Wendelin war zu einem angesehenen Mitglied der Dorfgemeinde geworden, von seinen Schülern geliebt und respektiert. Er verstand es wie kein anderer, ihnen eine Perspektive für das Leben zu geben und sie darauf vorzubereiten. Alle wurden sie anständige Menschen, die ihren Beitrag zur Gemeinschaft leisteten - manche gingen sogar fort zum Studieren und blieben in der Ferne, viele holten sich auch später noch Rat beim verehrten Lehrer.

Was keiner wußte war, daß Wendelin die ganzen Jahre immer wieder in den Schulferien lange einsame Wanderungen in den Wald unternahm - er suchte den Ort des Friedens, der sein Leben verändert hatte - einmal wollte er sie noch sehen, die Kristall-Kathedrale, nur ein einziges Mal.

Die Sehnsucht war manchmal so übermächtig, daß er innehalten und den Tränen freien Lauf lassen mußte. Der Weg führte ihn aber immer nur bis zur Schlucht mit dem tosenden Wasserfall. Mit keinem Menschen konnte er darüber sprechen. Mit der Zeit war er sich ja selbst nicht mehr sicher, ob er denn nicht alles nur geträumt hatte - aber im selben Moment wußte er tief in sich drin, daß er da gewesen war.

Wendelin war nun bereits weit über 70 und nach einem langen erfüllten Leben müde geworden, sein Körper und auch er. Er ließ das Leben an sich vorüberziehen und erinnerte sich auch an die vielen Versuche, den geliebten Ort, der nur noch eine Erinnerung war, wiederzufinden. Da ergab sich, daß sein Lieblingsschüler, der natürlich längst erwachsen war und Familie hatte, ihn besuchen kam.

Dieser lag Wendelin deshalb so am Herzen, weil er in der Schulzeit immer so schöne Geschichten geschrieben hatte sodaß jeder dachte, er würde einmal ein berühmter Schriftsteller werden. Der zog es jedoch vor, Ereignisse des täglichen Lebens für die Dorfgemeinschaft zu dokumentieren - er war Dorfchronist geworden. Als Wendelin und er über die alten Zeiten plauderten und sie begannen, sich auf einer sehr persönlichen Ebene, wie vertraute Freunde Geschichten zu erzählen, konnte es Wendelin nicht mehr für sich behalten - er mußte endlich sein Erlebnis im Wald mit jemandem teilen.

Nach einigen Sätzen erkannte der ehemalige Schüler die Bedeutung der Erzählung und bat, sie aufschreiben zu dürfen - der alte Lehrer willigte ein. Papier und Bleistift waren schnell gefunden und so erfuhr der Jüngere vom Alten das Geheimnis, das dieser so lange mit sich herumgetragen hatte. Als die Geschichte endete, liefen beiden die Tränen über die Wange und Wendelin fühlte sich müde. Es war spät geworden. Der Schüler verabschiedete sich gerührt und der alte Mann ging bald zu Bett.

Schon im Einschlafen begriffen nahm Wendelin sich fest vor, daß er es morgen noch ein allerletztes Mal im Wald versuchen wollte - mit diesem Wunsch schlief er ein. Aber - plötzlich fand er sich wieder, einen Waldweg entlang gehend - das Gelände war unwegsam, doch schien es sich zu bessern, als ihm der Weg auf einmal sehr vertraut wurde: Da war der kleine schwarze See und vorne öffnete sich die Lichtung von der silbern drei Glockenschläge herüber wehten.

Da lächelte er - er wußte, er war zu Hause.

Christine Szécsényi, 13.9.2007

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