Der Auftrag

Ein Engel wurde zur Erde gesandt um aus der kleinen Stadt einen Organisten heimzuholen...

(Ja! Organisten werden immer von Engeln abgeholt, wenn es so weit ist - wußtet ihr das nicht? Aber natürlich nur, wenn sie auch "brav" waren. Dann dürfen sie an einen wunderschönen, angenehm temperierten Ort mit einer ganz besonderen Orgel, 4 Manuale, mechanisch, pneumatisch oder in der Ausstattung ganz wie gewünscht, Disposition frei denk- und sofort spielbar, mit zeitlich unbegrenztem Zugang - auch zu einer Notenbibliothek mit allen Werken die je geschrieben wurden und sogar den noch nicht komponierten.

Aber - sollte einer gar während des Orgeldienstes Kreuzworträtsel gelöst oder Zeitung gelesen haben, anstatt sich in demütigem Gebet auf das nächste Lied vorzubereiten, dann ist die Strafe schrecklich: Es gibt da einen eiskalten, feuchten Raum mit einer nur mäßig funktionierenden Multiplexorgel, mit 2 schwergängigen Manualen, Pedal 1 1/2 Oktaven, 21 Register aus 3 gegeneinander verstimmten Pfeifenreihen, mit seltsam klingenden Namen wie z.B. "Vox Felis" mit eigenem Tremulanten, sowie bloß einem halbvermoderten Notenbuch - mit dem Stück, das dem Organisten am verhaßtesten war.) Aber nun Spaß beiseite, denn dies ist eigentlich keine humoristische Geschichte.

Der Organist um den es hier geht, war schon ein wenig in die Jahre gekommen und wußte sich über gar einige Wehwehchen zu beklagen. Weil er nun aber die ganze Zeit so ein braver und stets bescheidener Diener an seiner Gemeinde gewesen war, wollte man ihm vorzeitig die Gnade der Heimholung gewähren und hatte deshalb den Engel geschickt.

Dieser - er war noch sehr unerfahren, es war sein erster derartiger Auftrag - kam in die Kirche, als die Menschen dort gerade einem Orgelkonzert lauschten, das der Mann an dem besonders edlen Instrument spielte. Der Engel war auf der Stelle gefesselt von dem außergewöhnlich berührenden Spiel, er wollte nur noch diesem faszinierend ästhetischen Klang zuhören. Da wo er herkam hatte man nämlich nur Harfe gespielt und so vergaß er fast vollständig, warum er hier war.

Das Konzert war längst vorbei, hatte die Herzen der Leute erwärmt und das Publikum mit glücklichen Augen - bei manchen glänzten sie auch verräterisch feucht - zurückgelassen. Die Kirche leerte sich und am Ende war nur noch auf der Empore Licht. Der Engel erinnerte sich daran was er zu tun hatte und begab sich zur Orgel.

Verwundert sah er da vor sich einen Mann, der keineswegs derart alt war wie es aus dem Auftrag hervor ging. Er war auch nicht von Gram und Krankheit gebeugt. Es mußte sich offensichtlich um einen Irrtum handeln. Da Engel in uns lesen können wie in Büchern, bemerkte er allerdings eine kleinere allgemeine Unzufriedenheit mit dem Leben an sich, die sich an das Wesen dieses Mannes geheftet hatte und einen Schatten warf.

Er beschloß, dem auf den Grund zu gehen, denn er wollte ja nicht schon bei seinem ersten Auftrag einen Fehler machen. Er wollte also einmal nachsehen, was denn diese Unzufriedenheit hervorgerufen hatte, ob da eine Mitnahme überhaupt vertretbar war. Nur - diese Eigenmächtigkeit hatte ihm keiner angeschafft. Es besteht nämlich eine Gefahr, der er sich in dem Moment scheinbar nicht bewußt war:

Ein Engel kann - egal was sich sonst zeigt - die wahre Natur einer Seele erkennen. Wenn er nur einen Blick darauf wirft, sieht er ihre grundlegende Schönheit, verliert sofort sein Urteilsvermögen und verliebt sich auf der Stelle in sie. Dann ist mit ihm nichts mehr anzufangen. Deshalb ist es strengstens verboten, direkt auf eine andere Seele zu schauen.

Er aber sah nach, was sich da beim Anderen angeheftet hatte und wurde unvorsichtig (er war aber auch wirklich unerfahren) - er schaute immer tiefer, ein Vorhang nach dem anderen (kleine Dinge, hinter denen sich die Seele versteckte, die aber direkt den Weg zu ihr wiesen) fiel und die Nebel, die dieses andere Wesen umgaben lichteten sich immer mehr - der Engel konnte seinen Blick nicht mehr abwenden - es war zu spät. Als der letzte Schleier fiel und sich die Seele in ihrer vollen großartigen Schönheit zeigte, fühlte er nur noch eines - reine, bedingungslose Liebe.

Nichts hatte mehr Bedeutung - kein Auftrag, kein Gehorsam, keine Pflicht, keine Zeit, kein Raum, kein Engel-sein - nur diese andere Seele, die gleich einem Spiegel die Liebe in ihm selbst bis in die Unendlichkeit reflektierte und potenzierte.

Was folgte ist schwer mit irdischen Begriffen zu beschreiben. Am ehesten trifft es der Ausdruck "Kurzschluß infolge von überwältigender Liebe". Mit dem Engel war nun nichts mehr anzufangen - er würde noch lange an den Folgen zu leiden haben.

Dem anderen Wesen war nichts passiert und zwar weil das meiste oberhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle lag (wenn jemand für eine derartige Erfahrung noch nicht bereit ist, wirkt dies als Sicherung). So bekam also der Organist von alledem nicht so viel mit, was er irgendwie in Worte hätte fassen können. Er fühlte sich zwar angenehmer als sonst, aber auch etwas seltsam: Da war etwas wie eine Nähe, die ihm keinen Sinn machte, da ja für ihn sonst niemand auf der Empore war. Und nun ging er heim.

So merkte er auch nicht mehr, daß weitere Engel kamen, um dem Ungehorsamen zu Hilfe zu eilen. Drei von ihnen waren nötig, um diesen wieder einigermaßen zu sich zu bringen und ihm klarzumachen, welchen schweren Fehler er begangen hatte - was der in seinem Zustand aber gar nicht so recht sehen konnte. Da er die nächste Zeit sowieso ausfallen würde, war beschlossen worden, daß er solange in dieser Kirche ausharren müßte, bis ihm wieder klar wurde, was er eigentlich war und was ihm befohlen worden war. Dazu kam noch, daß er sich nicht abrupt zu weit von dieser anderen Seele entfernen durfte, da es sonst zu außerordentlich schmerzhaften "Entzugs"erscheinungen kommen würde. Und ein bißchen Mitgefühl hatte man ja schon mit dem Armen.

Das mit der Heimholung war daher im Moment nicht möglich, da der Engel erst einigermaßen genesen mußte. So war das Ganze sehr ärgerlich und damit er nicht noch mehr anstellen konnte, wurde er kurzerhand in eine Statue verbannt. Zur Abschreckung für andere Engel mußte er für alle sichtbar in der Mitte der Kirche verharren. In diesem Moment war es ihm aber egal, da er furchtbar litt.

So kam es, daß am nächsten Morgen das Licht in der Kirche auf eine alabasterfarbene, wunderschöne Engelsstatue in Frauengestalt fiel, die wie selbstverständlich dastand, sodaß es nicht einmal der Messner sofort bemerkte, obwohl er in Gedanken versunken einen Bogen um sie machen mußte. Und als er sie wahrnahm dachte er sich nur, daß man ihn schon wieder einmal nicht über eine neue Lieferung informiert hatte - was sich auch jeder andere dachte, der die Statue danach sah. Darüber sprechen wollte keiner um sich keine Blöße zu geben. Es war also ganz einfach, den unter heftigem Liebeskummer leidenden Engel in seiner Verbannung zu verstecken.

Diesem wurde trotz der steinernen Hülle plötzlich ganz warm um sein Engelherz - der Organist war gekommen und machte sich auf, an seiner Orgel ein paar neue Stücke zu proben. Bald war die Kirche wieder erfüllt von duftigen bis gewaltigen Klangwolken, die Bilder von berührenden und aufregenden Geschichten in den Raum malten. Der Engel fühlte wie sich seine Liebe bereits wieder potenzierte und versuchte sich ganz fest nur auf die Musik zu konzentrieren. Das ganze war ihm schon auch ein bißchen peinlich, aber er konnte nichts dagegen tun - er mußte immerzu an diese andere Seele denken. Man hatte ihm zwar gesagt, daß es irgendwann leichter würde und nicht mehr ganz so intensiv (offenbar war so etwas schon früher vorgekommen, sonst wüßte man ja nichts darüber), aber davon spürte er zur Zeit noch nichts.

Für den Organisten änderte sich gar nichts, außer daß er ab und zu von seinem "Hochsitz" aus die Statue ansah, die seine Aufmerksamkeit auf eigenartige Weise anzog, ihm aber auch irgendwie unheimlich war. Er beschloß, sich nicht weiter darum zu kümmern und konzentrierte sich auf seine Musik. Nur Abends, als er wieder aufbrach, wollte er sie einmal genauer ansehen. Sie war eigentlich sehr schön gearbeitet. Von den feinen Armen, die sich dem Betrachter fast flehend entgegenstreckten, hing ein schmales Tuch, das hinter dem Rücken verlief. Ein bodenlanges Gewand fiel in weichen Falten von der schlanken Taille - es mußte wohl ein Meisterstück des Bildhauers sein. Die zarten Linien der Gesichtszüge waren so ausdrucksstark, daß sie beinahe lebendig wirkten. Nur in den Augen lag etwas Trauriges. Außerdem hatte er plötzlich das Gefühl, nicht alleine in der Kirche zu sein und obwohl er keine Angst empfand, entschied er sich doch, nun zu gehen.

Der Engel hatte durch die Nähe der anderen Seele wieder einen Rückfall erlitten und nun, als diese sich so schnell entfernte, war es fürchterlich für ihn. Obwohl Engel nicht weinen können fühlte er sich nahe daran. Der Schmerz war überwältigend. Über die Nacht die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, hatte er genug Zeit über das Geschehene nachzudenken. Wenn er gekonnt hätte, hätte er seinen Fehler rückgängig gemacht. Andererseits ertappte er sich dabei, diese Erfahrung nach einer Weile trotz allem in gewisser Weise auch interessant zu finden. Er würde sie nur sicher keinem anderen empfehlen.

Die nächsten Wochen und Monate waren für den Engel sehr hart. Sobald er die andere Seele spürte, war da nur diese unendliche Liebe, mit der er völlig allein war. Und wenn die Seele sich entfernte war da ein derartiges Verlustgefühl, daß es selbst für einen Engel der einiges aushalten konnte, kaum zu ertragen war. Aber mit der Zeit lernte er, damit umzugehen und er reifte an dieser Erfahrung. Vorsichtig probierte er, etwas von der übergroßen Liebe an die Umgebung zu entladen und freute sich bald über den Effekt, den das hatte: Die Menschen setzten sich immer zuerst auf die freien Plätze in seiner Nähe - sie fühlten sich dort wohl.

Und abends, wenn die Kirche leer war, kam oft nach der Probe noch der Organist und setzte sich auf ein Weilchen in die Nähe der Statue, die ihn irgendwie faszinierte und von der etwas Angenehmes ausging. Dann schaute er sie einfach an und bewunderte ihre Schönheit. Manchmal blieb er auch länger, um noch eine schöne Improvisation zu spielen, weil ihn die Statue derart inspirierte.

Auf diese Weise entwickelte sich eine Art Austausch und der Engel erholte sich langsam, bis er eines Tages genesen war. Er hatte viel gelernt und konnte nun seine Liebe unbegrenzt in die Umgebung abstrahlen. Damit war es für ihn auch nicht mehr gefährlich, direkt auf eine andere Seele zu schauen. Und siehe da, bei dem anderen Wesen war der kleine Schatten der allgemeinen Unzufriedenheit verschwunden, der den Engel anfangs so neugierig gemacht hatte. Da erkannte er, daß dies ein Test gewesen war, den er am Ende doch bestanden hatte. Somit durfte er nun auch seine Verbannung wieder verlassen.

Die Statue verschwand damit über Nacht so unerklärlich, wie sie damals aufgetaucht war und der Messner fragte sich, warum er wieder einmal nicht informiert worden war. Irgendwie kam dann im Laufe des Tages das Gerücht auf, daß es eine Leihgabe von einer anderen Gemeinde gewesen war, die diese nun wieder abgeholt hatte, was alle bedauerten, dem aber nicht weiter nachgingen, da die Abendmesse vorzubereiten war.

Der Engel aber hatte noch einen Auftrag zu erfüllen, denn Jahre waren vergangen und unser Organist war nun wirklich alt geworden. Die lange Treppe zur Empore wurde immer beschwerlicher für ihn, obwohl - wenn er dann an seiner Orgel saß, war alles Unangenehme verflogen und er spielte so wundervoll wie immer. Mittlerweile gab es auch noch einen Stellvertreter an dem Instrument - einen eingebildeten jungen Burschen, der gerade seinen Abschluß gemacht hatte und sich für etwas Besseres hielt obwohl er mit seinem Spiel nie an die Tiefe des anderen herankam. Und er hatte noch dazu die Angewohnheit, während des Orgeldienstes zwischen den einzelnen Liedern Kreuzworträtsel zu lösen. Normalerweise nahm er sie immer mit heim, aber an diesem Tag blieb eines liegen.

Erschrocken bemerkte das der Engel, aber der alte Organist war bereits auf der Empore und als der das Rätselheft sah, schaute er doch hinein. Da beschloß der Engel, sich zu zeigen, damit nicht im letzten Moment noch etwas passierte. Und es kam ja nicht mehr darauf an, der Mann würde es doch keinem mehr erzählen können.

Der Organist blickte verdutzt auf die zarte Lichtgestalt, die da plötzlich neben ihm war und doch hatte er überhaupt keine Angst. Es schien irgendwie richtig zu sein. Mit einem liebevollen Blick und Schütteln des Kopfes gab ihm die Erscheinung zu verstehen, daß er das Heft besser weglegen sollte, was er sogleich tat. All die Jahre über hatte er die gleiche und mit der Zeit so vertraute Nähe gefühlt wie auch jetzt. "Warst Du das?" fragte er den Engel, "bist das immer Du gewesen?" Dieser nickte. "Zeit zu gehen, mein Freund" sagte er und hüllte den Mann in eine Wolke seiner Liebe. Er gab ihm zu verstehen, daß er die Messe fertig spielen durfte und das geschah auch. Die Schlußimprovisation war das beste, das der Organist jemals gespielt hatte und die Gemeinde unten war zutiefst beeindruckt - so etwas hatten die Menschen noch nie gehört. Aber sie waren auch erschüttert, denn es klang wie etwas das sich niemals wiederholen würde - wie ein Vermächtnis.

Ein letztes Mal drückte der Organist den Ausschaltknopf und zog den Schlüssel ab, den er auf den Spieltisch legte. Er warf einen letzten Blick auf das Instrument, erinnerte sich in dem Moment an all die Stunden, die er hier verbracht hatte, die unzähligen Gottesdienste, Hochzeiten, Konzerte und andere Orgeldienste, die er gespielt hatte und nahm Abschied. Ja, er war soweit. Der Engel, der ihn voller Verstehen und Mitgefühl beobachtet hatte breitete daraufhin seinen Lichtumhang über ihn und nahm ihn mit.

Hier endet die Geschichte - wir wissen ja, wo dieses Wesen jetzt spielt...


Christine Szécsényi, 4.2.2008

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